(Statement zum Rückbau und zur Unterstützung der Künstlerin vom Montag, den 27. September 2021, Dresden)
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OFFENER BRIEF (Archiv)
Dresden, den 26. Juli 2021
Dezernat II, BM Dr. Michael Wieler
Bürgermeister für Kultur, Jugend, Schule, Sport, Soziales, Bauen und Stadtentwicklung
Herr Dr. Michael Wieler, Stadt Görlitz
Sehr geehrter Herr Dr. Wieler,
mit großer Sorge habe ich die mediale Berichterstattung wie auch Ihren offenen Brief zu Ihrem Ultimatum an die Künstlerin Lisa Maria Baier wahrgenommen. Die Freiheit von Kunst und Wissenschaft sind in der Bundesrepublik Deutschland ein in der Verfassung geschütztes Recht und damit auch ein Wert, der aus gutem Grund zu den wesentlichen Fundamenten unserer Demokratie zählt.
Sie haben mit der Görlitz Art zu einem großen repräsentativen Vorhaben der Kunst im öffentlichen Raum nach Görlitz eingeladen. Diese Einladung zeigt, dass die Kulturverwaltung von Görlitz unter Ihrer Leitung der zeitgenössischen Kunst einen positiven Wert beimisst – eine der Gegenwartskultur zugewandte Haltung. Mit dem nun an die Künstlerin gerichteten Ultimatum richten Sie großen Schaden an, nicht nur für die Görlitz Art, sondern auch für die Glaubwürdigkeit unserer Kulturlandschaft und der hier verankerten freiheitlichen Grundwerte.
Lisa Maria Baier präsentiert in der für Görlitz Art entwickelten Installation Kulisse keine verfassungs-rechtlich indizierten Inhalte oder Symbole, sondern greift mit ihrem künstlerischen Verweis auf Abtreibungsrechte einen Sachverhalt auf, der in der Bundesrepublik Deutschland ein prägender Gegenstand der öffentlichen Debatte und der demokratischen Meinungsbildung ist. Eine von der Kunst und Kultur in Europa getragene Debatte um Themen von gesellschaftlicher Relevanz ist ein wichtiger Wert, der auch für eine europäische Haltung zur Bedeutung von Kultur als Impulsgeberin für demokratische Prozesse einer freiheitlichen Meinungsbildung steht.
Indem die Kulturverwaltung der Stadt Görlitz nun eine Künstlerin auffordert, ein Kunstwerk abzubauen, das mit dem Abtreibungsrecht ein wichtiges gesellschaftliches Thema für Menschen in Europa und überall auf der Welt aufgreift, und indem Sie damit drohen, das Werk andernfalls auf Kosten der Künstlerin zu beräumen, beschädigen Sie die grundgesetzlich geschützte Kunst- und Meinungsfreiheit aus Rücksicht auf eine Regierung in unserem Nachbarland, die diese Werte in den vergangenen Jahren systematisch unterminiert hat.
Ein solche öffentlich zur Schau getragene Haltung und Maßnahme widerspricht einer grundsätzlichen Werteausrichtung, nach der der Austausch zu individuellen Freiheitsrechten in Europa ausdrücklich Gegenstand des politischen und kulturellen Dialoges sein sollte.
Zu Recht darf und sollte sich unsere Gesellschaft – und auch Görlitz – mit zeitgenössischer Kunst als Ausdruck einer lebendigen, jungen, mutigen und offenen Gesellschaft schmücken – dies ist jedoch nur möglich, wenn auch die Stadt Görlitz sich zu den damit verbundenen Grundwerten bekennt. Denn genau diese Werte machen die lebendige Qualität von Kunst als Teil unserer Gesellschaft aus. Und genau hier liegt der Unterschied zwischen der Durchführung einer Veranstaltung der Gegenwartskunst und einer Stadtmarketingmaßnahme zur Ankurbelung des Tourismus.
Als Mitglieder einer von der öffentlichen Hand beauftragten Kulturverwaltung sehe ich uns in der Pflicht, eben diese Freiheitsrechte in einer auch für die europäische Wertegemeinschaft repräsentativen Situation positiv zu bewahren und aktiv zu vertreten. Als Leiterin einer Einrichtung für zeitgenössische Kunst spreche ich hier aus langjähriger Erfahrung, gerade auch in Bezug auf Kunst im öffentlichen Raum, die Impulse im Diskurs der Stadtgesellschaft setzt, die nachhaltig positiv wirken.
Zentral für die Aufgabe der Kulturverwaltung ist es, klar zwischen Kunstwerk und eigener inhaltlicher Positionierung der Stadtverwaltung zu unterscheiden, und genau diesen Unterschied in positivem Sinne in Bezug auf die demokratischen Freiheiten der Kunst herauszuarbeiten und zu vermitteln. Dies bedeutet nicht, sich von künstlerischen Inhalten zu distanzieren, sondern sachlich auf die Unterscheidung zwischen künstlerischem Werk und der Stadtverwaltung als Veranstalter hinzuweisen und die eigene Rolle als Vermittler im Sinne der oben genannten freiheitlich-demokratischen Kulturlandschaft wahrzunehmen.
Um weitere Schäden für Werk und Künstlerin wie auch für den weiteren Verlauf der Ereignisse zu verhindern, haben wir der Künstlerin Lisa Maria Baier, mit der uns eine langjährige Zusammenarbeit verbindet, angeboten, das Kunstwerk als Hilfsangebot in der jetzigen Situation unsererseits fachgerecht abzubauen und sicher einzulagern. Lisa Maria Baier hat dieses Angebot abgelehnt, da sie ihrerseits die Hoffnung nicht aufgeben will, dass die Ereignisse sich zum Guten wenden und dafür bereit ist, die Arbeit bis zum letzten Moment stehen zu lassen. Gern bieten wir auch Ihnen unsere Hilfe und ein Gespräch an.
Mit Bedauern, Ihnen diese Zeilen zukommen lassen zu müssen bleibt mir an dieser Stelle nur noch der Appell an Sie, die positive Chance, die sich der Stadt Görlitz gerade jetzt anlässlich dieser Kontroverse bietet, wahrzunehmen.
Christiane Mennicke-Schwarz
Leiterin Kunsthaus Dresden